Donnerstag, 8. September 2011

Ich werde euch eine Geschichte erzählen

„Ich werde euch eine Geschichte erzählen, die wie eine Lotusranke wächst, die sich in sich selbst verdreht und ständig vergrößert, bis ihr alle Teil davon geworden seid.“

So endet der Roman Tanz der Götter von Vikram Chandra und das Geschichtenerzählen beginnt erneut.
Chandras Roman wird gern mit der Märchensammlung Geschichten aus Tausend und Einer Nacht verglichen. Die Grundvorraussetzungen sind ähnlich: Der Geschichtenerzähler ringt mit dem Tod und um ihn aufzuschieben, muss er erzählen. Doch wo es bei Tausend und Einer Nacht hunderte von kurzen ineinander verflochtenen Märchen gibt, finden sich bei Chandra nur zu Beginn des Romans Verflechtungen und Rahmenhandlungen, dann brechen zwei Erzählstränge aus dem Geflecht hervor und dürfen in epischer Weite fließen.

So unterschiedlich wie ihre beiden Erzähler sind diese beiden Stränge. Die erste siedelt sich in einem fantastischen Indien am Ende des 18. Jahrhunderts an. Einem Indien, in dem die Engländer mit Arroganz und Ignoranz langsam die Macht übernehmen und mit keinerlei Verständnis für die lokalen Kulturen diese offensiv unterwandern.
Im Zentrum stehen drei Brüder, die durch ihre jeweils doppelte Zeugung gekennzeichnet sind. Zum einen durch die indische Mutter und den englischen Vater und zum anderen durch ein magisches Gebäck, das die Mutter vor den Schwangerschaften gegessen hat. Es stattet die Söhne mit übernatürlichen Talenten aus, die diese ohne sie zu hinterfragen annehmen und anwenden. Ihre Mitmenschen erkennen die Brüder als besondere Persönlichkeiten, doch die Wunder werden nur von Engländern als solche erkannt.

Der zweite Erzählstrang handelt von einem jungen Inder, der in den 1960er Jahren zum studieren nach Amerika geht. In der in sich geschlossenen Welt des Campus wird er von den Kommilitonen als einen der ihren angesehen. Der Kulturcrash erfolgt erst spät bei einer Begegnung mit den Eltern seiner amerikanischen Freundin, die in ihm in erster Linie den unkultivierten, doch interessanten Inder sehen. Ihr Indienbild ist geprägt durch eben jene englische Epoche, die wie in dem oben beschriebenen Erzählstrang mehr einem Fantasy-Setting gleicht. Der Protagonist kämpft zunächst gegen dieses Unwissen an. Doch da ihn diese Strategie nur demütigt, ändert er seine Taktik und macht sich eine Schein-Magie zu eigen. Er kehrt am Ende zu seinen Eltern zurück und setzt hier durch einen echten magischen Zwischenfall das Geschichtenerzählen in Gang.

Bei aller epischer Breite und fantastischen Ausschmückung, knappen Rahmenhandlungen und vielfältigen Verflechtungen wird Chandras Roman mit einem Leitmotiv zusammengehalten: Ein breit angelegter Kulturenkonflikt zwischen Ost und West, der sich durch alle Geschichten, Epochen und Schauplätzen hindurchwindet. Realismus trifft auf Magie. Die Magie gilt es mit Hilfe von Rationalität und kriegerischen Auseinandersetzungen zu zerstören. Doch sie lässt sich einfach nicht unterkriegen und bricht in den unerwartetsten Zusammenhängen wieder hervor.

Der Roman besticht durch seine Sprachgewalt, durch seine schier unendliche Vielfalt, durch seine Verflechtungen und Verwirrungen. Er lädt dazu ein, immer wieder gelesen zu werden um neue Details zu entdecken.

http://www.aufbau-verlag.de/index.php/tanz-der-gotter.html

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